Das Ende des Zweiten Weltkrieges als Geburtsstunde des modernen Simultandolmetschens

Heutzutage ist man es gewöhnt, Diplomaten der Vereinten Nationen mit Kopfhörern auf dem Kopf zu sehen, wie sie dem Simultandolmetscher der unterschiedlichen Ansprachen in eine der sechs offiziellen Sprachen der Vereinten Nationen (Englisch, Französisch, Arabisch, Chinesisch, Spanisch und Russisch) lauschen. Simultandolmetschen ist allerdings eine verhältnismäßig junge Erfindung. Sie wurde 1945 im Rahmen eines besonderen globalen Ereignisses, dem Nürnberger Prozess, entwickelt.

Vor dem Nürnberger Prozess fand das Dolmetschen nur konsekutiv statt, d. h. die Verdolmetschung durch den Dolmetscher erfolgte zeitversetzt erst nach Ende des Vortrags. Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde von den Alliierten der Internationale Militärgerichtshof eingerichtet, der einem klaren Zweck diente: dem „fairen und schnellen Prozess“ der angeklagten nazistischen Kriegsverbrecher.

Colonel Leon DostertDiese zwei Anforderungen legten den Prozessveranstaltern hohe Ansprüche auf. Die Organisation eines „gerechten“ und „schnellen“ Prozesses machte die Beschleunigung der Verdolmetschung in die vier Amtssprachen der betroffenen Länder – Englisch, Deutsch, Russisch und Französisch – erforderlich. Die Lösung stammt von Colonel Leon Dostert, einem gebürtigen Franzosen. Dostert wurde später zum US-Staatsbürger und Fremdsprachenexperten der US-Streitkräfte. 

Dostert war der Meinung, dass der Mensch gleichzeitig zuhören und sprechen kann. Möglich ist das schon, jedoch nicht einfach. Eines der Probleme bestand in der Übertragung aller Sprachen in Echtzeit. Hier ist anzumerken, dass 1945 weder digitale Aufzeichnungen noch Tonbänder existierten. Dostert wollte von seiner Idee jedoch nicht ablassen und begann schnell, mit dem amerikanischen Technologieunternehmen IBM zusammenzuarbeiten. Er bat das Unternehmen, ein Mikrofon- und Kopfhörersystem für die Übertragung von unharmonischen Laut- oder Wortfolgen zu entwickeln, er stellte vorübergehend Dolmetscher ein, um mit ihnen den neuen und anstrengenden Dolmetschprozess zu trainieren.

Letztendlich und trotz einiger Probleme (wie etwa das Stolpern über Kabel im Gerichtssaal) funktionierte sein System.

Noch vor Ende des Nürnberger Prozesses wurde das neue System vom Dostert bei den Vereinten Nationen in New York eingesetzt. Dieses System wird mit kleinen technologischen Neuerungen bis heute benutzt. „Damals, als ich als Dolmetscherin anfing, hatten sich alle Dolmetscher mit schweren Wörterbüchern herumgeschlagen“, erinnert sich Lynn Vission, die beim Nürnberger Prozess als Dolmetscherin mit dabei war. „Heute tragen alle iPads und Notebooks, in denen sie die meisten Wörterbücher gespeichert haben.“ Lynn erinnert sich weiter, dass in den hinteren Dolmetscherkabinen Fernsehbildschirme zur Verfügung standen, damit die Dolmetscher die Gesichtsausdrücke der Diplomaten und ihre Lippenbewegungen verfolgen konnten.

Technologie kann Dolmetscher auch heute nicht ersetzen. „Ein Computer kann den Tonfall nicht verdolmetschen“, so Lynn.

Nichtsdestotrotz besteht die größte Herausforderung für die Dolmetscher nicht darin, den Sprachton zu treffen, sondern richtig zu erfassen, was der Diplomat zu sagen versucht.

„Vor allem bei Menschen mit fremdem Akzent ist Vorsicht geboten. Man muss besonders aufhorchen, wenn man jemanden sagen hört ,Herr Vorsitzender, wir möchten Ihnen zu Ihrer defektiven Führungsweise gratulieren’, wobei klar ist, dass nicht ,defektive Führungsweise’ sondern ,effektive Führungsweise’ gemeint war“, sagt Lynn. „Man darf nie automatisch ein Wort nach dem anderen verdolmetschen. Wehe, der Satz wird als ,Wir möchten Ihnen zu Ihrer defektiven Führungsweise gratulieren’ verdolmetscht.“

Selbstverständlich dürfen die Worte der Weltführer nicht verdreht werden, egal, ob es sich um die Leugnung des Holocaust handelt, um geschickt-formulierte Schimpfwörter oder um die scharfe Rhetorik aus der Ära des Kalten Krieges.

„Eine der Sachen, die den Dolmetschern eingeprägt wird, ist, dass man selbst zur Figur auf der Bühne wird. Es gibt hier viele Schauspieler, die auch abstoßende Rollen spielen. Wenn man das Ganze als eine Art von Schauspielerei betrachtet, kann es sich durchaus um eine unterhaltsame und interessante Beschäftigung handeln, obwohl man einige der zu verdolmetschenden Wörter als abstoßend und mit Hass erfüllt empfindet,“ so Lynn abschließend.

Siegfried RamlerSiegfried Ramler war als Dolmetscher auch bei den Nürnberger Prozessen mit dabei und saß im Alter von 22 Jahren in einem Raum neben Hans Frank, der sich dort wegen Kriegsverbrechen verantworten musste. Ohne jegliches Training musste Siegfried stundenlange Verhöre verdolmetschen, die vor dem eigentlichen Prozess vor dem Tribunal stattfanden. Frank war Generalgouverneur des besetzten Polen und Adolf Hitlers persönlicher Rechtsanwalt. Siegfried beschreibt ihn als interessanten und imposanten Mann, der jedoch zum Fanatiker wurde. „Frank war eindeutig bewusst, dass er Schlechtes tat.“

Auf die Frage, wie er sich in einem Raum mit Frank, der wegen Mitschuld an dem Genozid von mehr als 3 Millionen Juden und Polen verurteilt wurde, gefühlt habe, erwiderte Siegfried: „Ich war mit der Aufgabe beschäftigt, das Verhör gut zu verdolmetschen und die richtigen Wörter im Wörterbuch zu finden. Ich suchte nach passenden Äquivalenten. Ich war dort, um zu dolmetschen und nicht, um zu richten. Ob ich von persönlichen Gefühlen gegen den Angeklagten betroffen war? Die dominante Frage betraf nicht meine Gefühle, sondern die linguistische Herausforderung. Wie ich mich mit dieser schwierigen Wortherausforderung auseinandersetzte?“

Mehrere Prozessanwesende haben die Dolmetscher gefragt, ob sie vom Inhalt der gedolmetschten Aussagen während der Verhöre nicht traumatisiert seien. „Was wir gesehen und gehört haben, war schockierend. Ich war damals erst 22 Jahre alt und konzentrierte mich voll und ganz auf meine Aufgabe.“

Siegfried kann sich bis heute an viele unvergessliche Momente aus dem Prozess erinnern. Zu den emotionalsten zählt wohl die Rede von Robert H. Jackson (dem amerikanischen Chefankläger während des Nürnberger Prozesses mit den nazistischen Kriegsverbrechern) bei der Eröffnung des Prozesses:

four nations who chose to „stay the hand of vengeance and voluntarily submit their captive enemies to the judgement of the law“;

freie Übersetzung:
… vier große Nationen, die nicht Rache üben, sondern ihre gefangenen Feinde freiwillig dem Richtspruch des Gesetzes übergeben.”

Siegfried erinnert sich noch an seine Kollegin,  Virginia von Schon, die hinter dem englischen Mikrofon saß. Sie konnte sich einfach nicht dazu durchringen, ein vulgäres Schimpfwort zu verdolmetschen. Sie hatte alles verdolmetscht, bis das Schimpfwort fiel. Hier unterbrach sie kopfschüttelnd das Dolmetschen. „Ich neigte mich zu ihrem Mikrofon und sagte noch eine schlimmere Version des gesprochenen Schimpfwortes.“ Im Gerichtssaal wurde es für eine kurze Zeit still und dann ertönten die Worte: „Hiermit können wir den Prozess unterbrechen!“

Nurnberger Prozess Dolmetschen

Foto: Dolmetscherkabine im Gerichtssaal beim Nürnberger Prozess

Gerichtssaal beim Nurnberger Prozess Dolmetscher

Foto: Gerichtssaal beim Nürnberger Prozess, hinten links sitzen die Dolmetscher

Nurnberger Prozess und Dolmetscher

Foto: Margot Bortlin verdolmetschst aus dem Deutschen ins Englische

Quellen:

https://www.theguardian.com/world/2014/oct/22/nuremberg-trials-siegfried-ramler-nazis-interpreter-war-crimes

https://www.pri.org/stories/2014-09-29/how-do-all-those-leaders-un-communicate-all-those-languages



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