Kognitive Studie über Sprachen

Kognitive Studie über Sprachen

Wie prägt die Sprache die Wahrnehmung der Menschen von der Welt?

Erfahren Sie mehr in der neuesten Studie über Sprachen.

Die neueste Studie von Lera Boroditsky, Professorin für Psychologie an der Stanford University, legt nahe, dass die Wahrnehmung der Menschen von der Welt in einem großen Maße durch die Sprache geprägt wird. Der nachfolgende Text befasst sich mit dieser interessanten Studie, die ursprünglich im Wall Street Journal veröffentlicht wurde.

Beeinflussen die Sprachen, die wir beherrschen, unser Denken? Dient die Sprache ausschließlich dazu, unsere Gedanken auszudrücken oder werden die Gedanken von der Sprachstruktur geprägt (ohne unser Wissen oder ohne unsere Zustimmung)?

Nehmen wir zum Beispiel den englischen Kinderreim: „Humpty Dumpty sat on a…“ Im Englischen müssen wir das Tempus des Verbs bezeichnen. In diesem Fall verwenden wir anstelle der Gegenwartsform „sits“ das Präteritum „sat“. Im  Indonesischen muss man das Verb nicht verändern, um das Tempus zu bezeichnen und es ist auch gar nicht möglich.

Im Russischen muss man neben der Zeit auch das Geschlecht bestimmen, ob es sich etwa um Frau oder Herr Dumpty handelt, die oder der auf dem Wall saß. Ferner ist zu bestimmen, ob Humpty Dumpty immer noch sitzt oder schon wieder steht. Sollte unser Held darüber hinaus etwa vom Stuhl fallen, obwohl er eigentlich sitzen sollte, ist das mit einer anderen Verbform auszudrücken – so, als ob er die ganze Zeit sitzen geblieben wäre.

Im Türkischen ist mit dem Verb zu bezeichnen, woher die Information kommt. Ist man selbst Augenzeuge, wie sich Herr Dumpty setzt, benutzt man für die Beschreibung eine andere Verbform als wenn man davon nur gehört oder gelesen hat.

Fassen englische, indonesische, russische und türkische Muttersprachler  ihre Erfahrungen also unterschiedlich auf, speichern sie sie unterschiedlich? Und das nur, weil sie unterschiedliche Sprachen benutzen?

Ähnliche Fragen lassen sich zu allen großen Kontroversen bei der Untersuchung des menschlichen Denkens stellen. Die Sprache hat ferner bedeutenden Einfluss auf Politik, Recht und Religion. Nichtsdestotrotz gibt es hierzu nur wenige empirische Studien. Die These, wonach die Sprache das Denken beeinflussen könnte, galt lange Zeit als nicht messbar. Heute lässt sich jedoch anhand von vielen neuen kognitiven Studien belegen, dass unser Weltverständnis von der Sprache geprägt wird.

Die Frage, ob Sprache das menschliche Denken beeinflusst, ist schon einige Jahrhunderte alt. Schon Karl der Große sagte: „Eine zweite Sprache zu sprechen bedeutet, eine zweite Seele zu besitzen.“ Diese Idee hatte jedoch in den sechziger und siebziger Jahren an Popularität eingebüßt, nachdem Doktor Noam Chomsky seine Sprachentheorie veröffentlichte, wonach für alle Sprachen eine Art universelle Grammatik existiere und die einzelnen Sprachen keine besonderen Unterschiede zeigten. Basierend auf dieser These schien es nicht weiter sinnvoll, weitere Nachforschungen zum Einfluss der Sprache auf das unterschiedliche Denken von Menschen anzustellen.

Die Erforschung der sprachlichen Universalität brachte zwar viele interessante Daten über die Sprachen hervor, keines der vorgebrachten Universalansätze hielt jedoch trotz jahrzehntelanger Arbeit weitergehenden Untersuchungen stand. Im Gegenteil: Je tiefer die Linguisten in der Untersuchung der Sprachen vordrängten (von den mehr als 7.000, wobei nur ein Bruchteil analysiert wurde), umso öfter stießen sie auf unzählige unvorhersehbare Unterschiede.

Dass Menschen anders sprechen, muss nicht gleich heißen, dass sie auch anders denken. In den letzten zehn Jahren begannen die Forscher damit, sich nicht nur mit der Art und Weise zu befassen, wie Menschen sprechen, sondern auch damit, wie sie dabei denken. So wurde untersucht, ob unser Grundverständnis bei Themen wie etwa Raum, Zeit und Kausalität von der Sprache geprägt wird.

Die Pormpuraaw, eine kleine Aborigines-Gemeinde in Australien, benutzen zum Beispiel anstelle von Wörtern wie „links“ und „rechts“ die allgemeinen Richtungsbegriffe wie nördlich, östlich, westlich und südlich. Normalerweise sagen sie: „Da ist eine Ameise auf deinem südwestlich weisenden Bein.“ Die Begrüßung in Pormpuraaw heißt nicht etwa, wie geht es dir, sondern: „Wohin gehst du?“ Darauf erwidert man etwa: „Ich gehe schon wirklich lange nach Süden bis Südosten und wohin gehst du?“ Kennt man die Richtung nicht, kommt man über ein „Hallo“ nicht hinaus.

Etwa ein Drittel der Sprachen weltweit benutzt eine ähnliche Raumbezeichnung. Die Sprecher solcher Sprachen können sich als Folge ihres ständigen linguistischen Trainings ungewöhnlich gut orientieren und ihre aktuelle Position auch in fremder Umgebung feststellen. Sie sind in der Lage, Navigationsentscheidungen zu treffen, von denen die Forscher dachten, dass diese Entscheidungen nicht getroffen werden können. Es handelt sich daher um einen grundlegenden Unterschied in der räumlichen Grundwahrnehmung, die von klein auf über die Sprache trainiert wird.

Die Unterschiede bei der räumlichen Wahrnehmung gehen aber noch weiter. Die Menschen bauen auch dann auf der Grundlage ihrer Kenntnisse über den Raum auf, wenn sie andere abstraktere Begriffe wie etwa Zeit, Zahlen, Töne, Verwandtschaftsbeziehungen, Moral und Emotionen ausdrücken möchten. Wenn sich also die räumlichen Vorstellungen der Pormpuraaw-Aborigines unterscheiden, heißt das etwa, dass sie beispielsweise auch Zeit unterschiedlich wahrnehmen?

Um das herauszufinden, reisten meine Kollegin Alice Gaby und ich nach Australien und legten Pormpuraaw-Aborigines eine Reihe von Bildern vor, die Zeitabläufe zeigten. So zum Beispiel die Bilder eines alternden Mannes, wie ein Krokodil wächst oder wie eine Banane verspeist wird. Ihre Aufgabe bestand darin, die durchgemischten Fotos zeitlich zu ordnen. Wir nahmen mit jeder Person zwei separate Testreihen vor, wobei die Person mit ihrem Kopf jedes Mal einer anderen Himmelsrichtung zugewandt war. Englisch sprechende Testpersonen ordneten die Bilder so, dass die Zeit von links nach rechts fortschreitet. Hebräisch Sprechende legten die Bilder von rechts nach links (da im Hebräischen von rechts nach links geschrieben wird).

Doch die Pormpuraaw-Aborigines sortierten die Bilder von Osten nach Westen. Wenn die Testperson mit dem Gesicht nach Süden saß, verlief die Zeit von links nach rechts. Schaute die Person jedoch nach Norden, ordnete sie die Bilder von rechts nach links. Saß die Person mit dem Gesicht dem Osten zugewandt, lief die Bilderfolge auf den Körper zu und umgekehrt. Den Probanden wurde zu keinem Zeitpunkt gesagt, in welche Himmelsrichtung sie gerade schauten. Nicht nur wussten sie das sofort von allein, sondern sie nutzten diese räumliche Orientierung spontan auch, um ihr eigenes Verständnis der Zeit zu konstruieren. Der Mensch bedient sich vieler anderer Formen, um die Zeit über die Sprache unterschiedlich zu organisieren. Menschen, die  Mandarin-Chinesisch sprechen, bezeichnen die Zukunft als etwas, das unten ist und die Vergangenheit als etwas, das oben ist. Im südamerikanischen Aymara liegt die Zukunft hinten, wobei die Vergangenheit vorn ist.

Neben der räumlichen und zeitlichen Wahrnehmung formt die Sprache auch unser Verständnis der kausalen Zusammenhänge. Im Englischen werden Geschehnisse etwa unter Benennung der Subjekte beschrieben, die die Handlung ausführen. Selbst wenn jemand aus Versehen eine Vase umwirft, heißt es im Englischen „Peter hat die Vase zerbrochen“. Im Spanischen und Japanischen sagt man eher, dass die Vase zerbrochen sei. Die Sprachunterschiede haben wichtigen Einfluss darauf, wie Menschen Kausalität wahrnehmen, woran sie sich als Augenzeugen erinnern und wie sie andere verurteilen oder bestrafen.

In einer Experimentreihe unter Leitung der Standford Professorin Caitlin Fausey wurden englisch, spanisch und japanisch sprechenden Personen Videoaufnahmen von zwei Personen gezeigt, die zuerst absichtlich, dann aus Versehen ein Ei oder einen Luftballon zerstörten oder Wasser aus einem Glas verschütteten. Späterer wurde bei allen unangemeldet das Gedächtnis getestet: „Können Sie sich noch erinnern, wer was getan hat?“ Bei den Antworten kamen schockierende Gedächtnisunterschiede der Augenzeugen ans Licht. Die Japaner und Spanier konnten sich an diejenigen, die die Ballons aus Versehen platzen ließen, nicht erinnern. Im Vergleich zu englisch sprechenden Probanden wies ihr Gedächtnis hier Unterschiede auf. Hatten die Personen auf den Videos mit Absicht gehandelt, erkannten sie diese jedoch ohne Unterschiede wieder. In der japanischen sowie spanischen Sprache ist es nämlich nicht erforderlich, bei einem Versehen den Verursacher, also das Subjekt, zu benennen, wozu sie auch nicht in der Lage waren.

In einer weiteren Studie untersuchten Forscher ausschließlich englisch sprechende Testpersonen, die sich den berüchtigten Auftritt des Popstars Janet Jackson angesehen hatten, die sog. Kleiderpanne oder auf Englisch „wardrobe malfunction“. Diese „Panne“ gilt als das perfekte Beispiel eines vom Subjekt nicht verursachten Zufalls. Zur Erklärung müssen erst die Umstände erläutert werden: Janet Jackson und Justin Timberlake traten gemeinsam auf. Ihre Auftritte wurden immer von einer Tanzchoreographie begleitet. Der Begriff Kleiderpanne steht für schlecht sitzende Kleidung. Diese ist bei Janet Jackson während der Tanzchoreographie gerissen, wodurch Janet Jackson während ihres Auftritts halb nackt dastand. Der Begriff wurde in das englische Wörterbuch dank Justin Timberlake eingeführt, der den Begriff nach dem Auftritt als erster benutzte. Das abgespielte Video wurde von zwei unterschiedlichen Texten begleitet. Die Texte unterschieden sich beim letzten Satz. Beim ersten Text hieß der letzte Satz: „riss das Kostüm“ („ripped the costume“) und beim zweiten „das Kostüm riss“ („the costume ripped“). Obwohl beide Gruppen in der Studie dasselbe Video des Auftritts zu sehen bekommen hatten, war die Sprache des Textes wichtig und für die Wahrnehmung des ganzen Vorfalls von Bedeutung. Wer im Text die Formulierung „riss das Kostüm“ („ripped the costume“) zu lesen bekam, beschuldigte viel häufiger Justin Timberlake.

Neben dem Verständnis von Raum, Zeit und Kausalität gibt es in der Sprache mehrere Beispiele, die den Einfluss der Sprache auf die menschliche Wahrnehmung der Welt belegen. Russische Muttersprachler unterscheiden im Russischen neben hell- und dunkelblau noch weitere Blauschattierungen. Russisch Sprechende können daher besser Farbschattierungen beschreiben und bestimmen. Die Pirahã, ein im Amazonasgebiet Brasiliens beheimatetes Volk, benutzen keine exakten Zahlwörter, sondern nur die Bezeichnung für „wenig“ und „viel“. Ihre Fähigkeit, genaue Zahlenangaben zu machen, ist auf ein Minimum begrenzt.

Die Sprachstruktur spiegelt ebenfalls die Wahrnehmung von Priorität und Schuld in unterschiedlichen Kulturen wider. Im Englischen wird Wert darauf gelegt, Geschehnisse mit einem verantwortlichen Akteur zu beschreiben und auch in unserer Strafordnung wird Gerechtigkeit geübt, indem man den Schuldigen entlarvt und anschließend entsprechend bestraft (dies ist viel mehr, als die Opfer zu finden und für ihr Leid entsprechend zu entschädigen, was einen alternativen Ansatz zur Ausübung der Gerechtigkeit darstellt). Kann also die Sprache kulturelle Werte beeinflussen? Oder ist es eher umgekehrt? Oder vielleicht beides?

Selbstverständlich stellt die Sprache ein Werkzeug in den Händen der Menschen dar, die sich die Sprache ausgedacht und ihren Bedürfnissen angepasst haben. Eine einseitige Demonstration der Tatsachen, dass Menschen, die unterschiedliche Sprachen sprechen, die Welt unterschiedlich wahrnehmen, zeigt nicht auf, ob die Ursache dafür in der Sprache selbst oder bei den Menschen liegt, die sie erfunden haben. Um diese kausale Aufgabe der Sprache nachweisen zu können, müssen Studien konzipiert werden, die direkt mit der Sprache manipulieren und anschließend untersuchen, wie davon die menschliche Erkenntnis geprägt wird.

Gerade das Nachweisen dieser Kausalität ist eines der wichtigsten Erkenntnisse der letzten Jahre. Und es zeigte sich: wenn die Art, wie Menschen sprechen, geändert wird, ändert sich auch ihre Denkweise. Erlernt man eine zweite Sprache, beginnt man, die Welt anders zu sehen. Bilinguale Personen ändern ihre Denkweise je nachdem, welche Sprache sie gerade verwenden. Wird Menschen die Möglichkeit genommen, verbal zu kommunizieren, kann sich ihre Leistungsfähigkeit bei anscheinend leichten nonverbalen Aufgaben sehr schnell drastisch verschlechtern und lässt sich sogar mit der Leistung einer Rate oder Maus vergleichen. Vor kurzem wurden Studenten am Massachusetts Institute of Technology im Rahmen einer Studie auf dem Bildschirm Punkte gezeigt. Die Studenten sollten die Anzahl der Punkte angeben. War es den Probanden erlaubt, die Punkte normal zu zählen, waren ihre Ergebnisse ausgezeichnet. Hatten sie gleichzeitig eine nonverbale Aufgabe zu erfüllen – wie etwa zum vorgegebenen Rhythmus in die Hände zu klatschen –, erreichten sie immer noch gute Ergebnisse. Mussten sie jedoch beim Zählen der Punkte gleichzeitig eine verbale Aufgabe erfüllen – wie etwa Wörter aus Fernsehnachrichten wiederholen –, fielen die Studenten beim Punktezählen total durch. Anders ausgedrückt: um die Punkte zählen zu können, war Sprache erforderlich.

Diese neue Art von Studien zeigt, dass die von uns benutzten Sprachen nicht nur dazu da sind, unsere Gedanken auszudrücken, sondern dass diese auch den Inhalt des Gesprochenen beeinflussen. Die Sprachstrukturen formen auch unsere Wahrnehmung der Realität. Sie machen uns zu gebildeten und intelligenten Wesen.

Sprache ist für die Menschheit ein einzigartiges Geschenk. Durch das Erforschen der Sprachen enthüllen wir unsere Menschlichkeit und erhalten Einblicke in die Grundlagen der menschlichen Natur selbst. Beim Aufdecken der Unterschiede zwischen Sprachen und den Menschen, die sie benutzen, stellen wir fest, dass es in Abhängigkeit von der benutzten Sprache auch wichtige Unterschiede in der menschlichen Natur gibt. Diese Forschung hilft uns dabei, Antworten auf Fragen zu finden, die wir uns alle stellen. Was macht uns zu dem, was wir sind? Woher kommt unsere Art zu denken? Es scheint, dass wir einen wichtigen Teil der Antworten auf diese Fragen in den von uns benutzten Sprachen finden.



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